Wie gelingt es der Kirche/Gemeinde Jesu, die Bergpredigt in einer modernen Gesellschaft umzusetzten? Ein Interview mit Russell Moore, Ethiker, Au­tor und Vorsitzender der Kommission für Ethik und Religionsfreiheit der Southern Baptist Con­vention. Peter Mommsen, vom Fox Hill Bru­derhof in New York, führte dieses Interview im Auftrag von Plough Quarterly.

 

Mommsen:         Unsere Gesellschaft entledigt sich mit großer Geschwindigkeit aller christ­lichen Kennzeichen. Was bedeutet die Bergpredigt unter diesen Umständen für die Kirche?

 

Moore:                Die Bergpredigt wird immer wichtiger, weil das Christentum in unserer Gesellschaft immer mehr zu etwas Fremden wird. Jesu Lehren er­geben verstandesmäßig keinen Sinn für den „natürlichen Menschen”, wie Paulus es nennen würde. Wer die Welt darwinistisch bzw. naturalistisch ver­steht, dem muss es zum Beispiel nor­mal vorkommen, dass man zurückschlägt, wenn man geschlagen wurde. Bei der Bergpredigt geht es um das Reich Gottes. Die Kirche ist die ursprüngliche Manifestation des Reiches Gottes in diesem Zeitalter. Sie ver­weist darauf, wie das Reich Gottes in seiner Fülle und ursprüngliche Vollendung sein wird, wenn das neue Zeitalter hereinbricht.

 

Mommsen:         Wo besteht die größte Gefahr, sich auf faule Kompromisse einzulassen?

 

Moore:                In dem konservativen, evan­gelikalen Teil der Kirche, zu dem ich gehöre, gibt es zu viele Menschen, die von Bibelpassagen alarmiert sind, die eigentlich tröstlich ge­meint sind und sie fühlen sich be­ruhigt durch Passagen, die alarmie­rend gemeint sind. Viele Leute in meiner Gemeinde sind durch die Prädestinationslehre sehr beunruhigt- sie haben Angst, was das bedeuten könnte. In Wirklichkeit aber bedeutet es, dass Gott auf unserer Seite ist und uns nicht im Stich lassen wird.

Auf der anderen Seite verstehen viele Leute die Bergpredigt so, als sei sie nur tröstlich: Wir besticken Tücher damit und hängen sie uns an die Wand. Aber wenn wir wirklich auf das hören, was Jesus hier sagt, dann sehen wir, dass er unser Werk völlig nieder­reißt und eine ganz neue Welt für uns erschafft. Wenn wir die Bergpredigt wirklich verstehen, dann müssen wir als sündige Menschen vor allen Din­gen betroffen und bestürzt sein und dann Busse tun und umkehren.

Ich erinnere mich, wie ich einmal über die Bergpredigt gepredigt habe und unwillkürlich ein Sternchen hin­ter eine Passage gemacht habe mit der Anmerkung: „Das kann offensichtlich nicht so gemeint sein!“ Da ist es mir mit einem Schlag klar geworden, dass das genau das ist, was liberale Protestanten mit der jungfräulichen Geburt machen. Ich musste umkehren und mich dem fügen, was Jesus wirklich ge­sagt hat, anstatt zu verlangen, dass sich seine Worte meinen Ansichten fügen.

 

Mommsen:         In Matthäus 5Iehrt Jesus, dass die Ehe eine unauflösliche Einheit zwi­schen einem Mann und einer Frau ist. Wie können Christen den Willen Gottes bezüglich Sexualität und Ehe besser bezeugen?

 

Moore:                In der Vergangenheit ist die Kirche davon ausgegangen, dass die Gemeinschaft ihr Grundverständnis von Ehe teilt und dass wir nur das Evangelium noch hinzunehmen müssen, um Ehen besser zu machen. Heute hingegen müssen wir zurück­kehren zu einem neutestamentlichen Modell des geduldigen Erklärens, wo­rin die theologischen Grundlagen be­stehen, auf denen Ehe und Sexualität beruhen. Bei Ehe und Sexualität geht es nicht einfach nur darum, in diesem Leben besser zurechtzukommen. Es sind Vorabbilder, die auf etwas hindeu­ten, was vorgeschichtlich und vorkosmisch ist: Die Einheit Christi mir seiner Kirche. Deswegen müssen wir unbedingt die Zeit aufbringen, um den Gläubigen zu vermitteln, warum ihre Ehen und ihr Sexualleben entweder auf diese zentrale Wahrheit hinweisen oder von ihr weg.

Es ist auch wichtig, dass wir gegen den Teufel ankämpfen. Den meisten Zeitgenossen ist es peinlich, wenn sie gläubige Christen vom Teufel als einer Person reden hören, aber ich denke, wir müssen es tun. Der Teufel arbeitet auf zwei Weisen. Entweder flüstert er Menschen ein: „Gottes Wort gilt für dich nicht — du wirst sicher nicht verlorengehen.” Oder er hält ihnen ihre Schuld vor: ,,Deine Sünden sind zu groß — du wirst niemals vor Gott be­stehen können.”

Wir sind Botschafter der Versöh­nung, also müssen wir beide Lügen entkräften. Wir müssen die Täuschung des Teufels aufdecken indem wir sagen: ,,Wer sexuell unmoralisch lebt, wird nicht das Reich Gottes erben.” Wir müssen aber auch die Be­schuldigungen des Teufels angehen und erklären: ,,Das Blut Jesu kann uns von jeder Sünde reinwaschen. Jesus bietet jedem Menschen Versöhnung an, wenn er Buße tun und gläubig wird.” Beide Wahrheiten müssen in dieser Welt, voller sexueller Kaputtheit, ausgesprochen werden.

 

Mommsen:         Jesus sagt: ,,Sammelt euch nicht Schatze hier auf der Erde… Ihr könnt nicht beiden dienen, Gott und dem Mammon.” Sind wir in den rei­chen westlichen Industriestaaten zu nachgiebig, wenn es um wirtschaftliche Ungerechtigkeit und Materialismus geht?

 

Moore:                Ja. Wir alle müssen lernen, auf die Propheten zu hören, die über systemische soziale Ungerechtigkeit sprechen, egal was wir über Sozialgesetzgebung denken. Wir müssen auf die Botschaft des Jakobus hören, des Bruders unseres Herrn, der gelehrt hat, dass die Weise, wie wir mit armen Menschen umgehen, zeigt, wie wir mit Christus umgehen. Das muss fortwährend gepredigt werden, auch wenn es unangenehm ist. Wenn Jesus uns vor dem Mammon warnt, dann meint er nicht nur die Superreichen. Auf die Welt des Neuen Testaments bezogen sind auch die wirtschaftlich am meisten benachteiligten Bürger der westlichen Industrienationen rei­cher als die ,,Reichen”, von denen in der Heiligen Schrift die Rede ist.

 

Mommsen:         Wie können wir innerhalb unserer Gemeinden lernen, die Bürden des an­deren mitzutragen?

 

Moore:                Damit das passieren kann, müssen wir erst einmal wissen, wie es dem anderen geht. Wir können unmöglich seine Bürden mittragen, wenn wir gar nicht wissen, was er für Bürden hat.

 

Ich habe in den vergangenen Jah­ren eine positive Entwicklung in dieser Hinsicht gesehen. Nach der Wirtschaftskrise von 2008 sind Kirchen aktiv geworden und haben denen geholfen, die besonders be­troffen waren. Außerdem haben sich viele evangelikale Christen bereitgefunden, Kinder in Pflege zu nehmen oder zu adoptieren, und sind damit ihrer Verantwortung gegenüber Wit­wen und Waisen nachgekommen, wie es in Jakobus 1,27 beschrieben ist. Der Rest der Gemeinde hat sich zusammen bemüht, diesen Familien finanziell unter die Arme zu greifen. Man hatte begriffen, dass dies nicht nur die jeweiligen Familie betrifft, sondern die ganze Kirche. Wir brau­chen noch mehr solche Aktionen in unseren Kirchen.

 

Mommsen:         Es wird oft bemerkt, dass die Bergpredigt nicht nur Anweisungen an Individuen enthält, sondern auch an die Kirche selbst. Welche Rolle spielt hier Gemeindezucht, wenn es darum geht, ein eindrücklicheres Zeugnis für das Evangelium zu geben?

 

Moore:               Der Apostel Paulus sagt in 1. Korinther 5. 12: ,,Ich will also nicht Außenstehende richten — ihr richtet ja auch nur solche, die zu euch gehören.” Es ist offensichtlich, dass der Apostel nicht von moralischer Beurteilung spricht, denn er beurteilt ja durch­aus die zeitgenössische Gesellschaft. Ihm geht es um die Übernahme von Verantwortung. Gerade in den Kirchen der USA drehen Christen diese paulinische Formel oft um: Wir richten die Außenstehenden und verlangen Rechenschaft von ihnen, während wir gleichzeitig dazu neigen, die Sünden zu ignorieren, die inner­halb unserer eigenen Gemeinden geschehen. Wir müssen verstehen, dass Mit­glied der Kirche zu sein bedeutet, in der Zukunft zu Königen und Köni­ginnen des Universums zu werden. Wir führen vor, wie das Reich Gottes aussieht. Eine Gemeinde, die nicht willens ist zu disziplinieren, ist des­halb eine Gemeinde, die ein falsches Evangelium vertritt. Der Grund da­für, dass wir Leute für ihre Handlun­gen verantwortlich halten, ist nicht Bestrafung, sondern Erlösung und Befreiung — so wie Jesus es in Matt­häus 18 ausdrückt: Um deinen Bruder zu gewinnen.

 

Mommsen:         Engagement der Evangelikalen in der Politik ausgesprochen. Wie kann das passieren, ohne wieder den Irrweg ein­zuschlagen, zu Handlangern entweder der politischen Rechten oder Linken zu werden?

 

Moore:                Das kann so aussehen, dass wir mit aufrichtigen Menschen dort zusammenarbeiten, wo wir uns in einer bestimmten Angelegenheit ver­bünden können. Es bedeutet nicht, dass wir mit unseren Bündnispartnern in allen Hinsichten einer Meinung sind. Wir können keine polnische Richtung als Ganze befürworten. Unser Ziel muss es sein, die Themen anzusprechen, die in der Bibel zentral sind: Nächstenliebe, Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit im öffentlichen Leben. Aber wir müssen uns dabei ein gesundes Misstrauen gegenüber politischen Strukturen und Führungspersönlichkeiten bewahren. Spitzenpolitiker sind keine geistlichen Autoritäten und wir dürfen sie nie als Verwirklichter geistlicher Anliegen sehen.

Wir müssen das Gute, aber auch die Grenzen politischen Engagements erkennen. Jesus sagt: ,,Trachtet aber zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit” lch stim­me Nicholas Wolterstorff zu, dass Rechtschaffenheit sich nicht auf persönliche Frömmigkeit beschränken kann, sondern auch Gerechtigkeit im politischen Sinn anstreben muss. Wir suchen das Reich Gottes und Gottes Gerechtigkeit. Aber diese Reihen­folge muss eingehalten werden: Wir gründen uns auf das Evangelium und machen das Reich Gottes zu unserem obersten Ziel.

 

Mommsen:         Viele Christen sind besorgt, dass ihr Glaube in westlichen Staaten zu­nehmend an den Rande der Gesellschaft gedrängt wird. Was sagen Sie dazu?

 

Moore:                Meiner Ansicht nach ist die Marginalisierung des Christentums schlecht für die betreffenden Staaten, aber gut für die Kirche. Wir haben viel zu lange versucht, das Christentum als normal darzustellen. Wir wollten zu unseren Nachbarn sagen können: ,,Wir sind genau wie ihr, wir wählen konservativ, wir sind die große Mehrheit, die die öffentliche Moral aufrechterhält. Wir können Jesus zu eurem Leben hinzufügen und euch alles geben, was ihr braucht, um gute Staatsbürger zu sein.”

Diese Tage sind vorbei und wir er­leben, wie sich vieles in den großen Kirchen in Rauch auflöst. Wer in die Kirche gegangen ist, um das sozial An­erkannte zu tun, der macht das heute längst nicht mehr. Wer trotzdem noch in die Kirche geht, das sind Menschen, die wirklich an das Evangelium in all seiner Andersartigkeit glauben. Wir haben hier eine große Chance für Klarheit und für Erneuerung und Er­weckung in den Gemeinden.

 

Der Pflug, Nr. 84, Sommer

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