Jeder, der die Bibel in 365 Tagen oder länger gelesen hat, ist mit Sicherheit schon über einige Stellen gestolpert, bei denen er/sie sich gefragt hat: Warum tut Gott so was? Warum lässt er so was zu? Besonders im Alten Testament (AT) passieren Dinge, die irgendwie nicht mit einem Gott vereinbar sind, der die Welt (und uns Menschen) so sehr liebt, dass er seinen eingeborenen Sohn für sie hingegeben hat (vgl. Joh 3,16). Warum scheint der Gott des AT so komplett anders als der Gott des Neuen Testaments (NT) zu sein? Ist das also wirklich derselbe Gott, von dem wir da lesen? Oder etwa nicht?

Wie passen Gewalt und Liebe zusammen?

Richard Dawkins, ein atheistischer Evolutionsforscher aus Oxford, bezeichnet in seinem Buch „Der Gotteswahn“ den Gott des AT – den er auch im NT zu erkennen glaubt – als einen „…blutrünstigen ethnischen Säuberer, einen frauenfeindlichen, homophoben, rassistischen, kinds- und völkermördischen, ekligen, größenwahnsinnigen, sadomasochistischen, launisch-boshaften Tyrann“ (Dawkins, 2010, S. 39). Nun, das ist selbst für einen Atheisten eine krasse Schlussfolgerung über den Gott der Bibel, den es seiner Meinung eigentlich gar nicht gibt. Nachfolgend ein Beispiel:

Gott führt sein Volk Israel durch Josua, Moses Nachfolger, in das verheißene Land Kanaan. Die Gebiete westlich des Jordans werden erobert, insgesamt 31 Städte, wie uns das Buch Josua berichtet (Jos 12,24). Gott spricht zu Josua:

Sei mutig und stark. […] Fürchte dich also nicht und hab keine Angst; denn der Herr dein Gott, ist mit dir bei allem, was du unternimmst. (Jos 1,6-9; eigene Hervorhebung).

Gott gibt Jericho als erste Stadt in Josuas Hände. Nachdem die Stadt erobert ist, steht geschrieben:

Mit scharfem Schwert weihten sie alles, was in der Stadt war, dem Untergang, Männer und Frauen, Kinder und Greise, Rinder, Schafe und Esel. (Jos 6,21).

Kaum vorstellbar, wie viel Blut an diesem Tag vergossen wurde. Josua verflucht beim Namen des Herrn sogar den Mann, der es unternehmen sollte, die Stadt wiederaufzurichten. Aber „der Herr war mit Josua“ (Jos 6, 26-27) und Gott gibt ihm den Auftrag bei der Eroberung der nächsten Stadt ebenso zu verfahren (Jos 8,2). Jesus lehrt uns hingegen, unseren Nächsten (Mt 22,39), ja sogar unsere Feinde, zu lieben, und sie zu segnen und nicht zu fluchen (Mt 5,44). Wie passen diese „brutale Gewalt“ im AT und die „radikale Liebe“ im NT zusammen?

Ist der Gott des AT und des NT überhaupt derselbe?

Für mich war lange Zeit das AT mit einem Gott des Zorns verbunden war, während sich erst im NT der „wahre Gott“, der Gott der Liebe offenbart. Einfach ausgedrückt: Böser Gott – Guter Gott. Aber so einfach ist es nicht…. Gott zeigt sich bereits im AT als gut, gnädig, barmherzig und gerecht (2. Mos 34,6-7), der langsam zum Zorn und sehr geduldig ist (Neh 9,17;Joe 2,13;Ps 103,8). Dass Gott bereit zur Vergebung und reich an Liebe ist für alle, die zu ihm rufen (Ps 86,6), das sehen wir an vielen atl. Bibelstellen, wie z. B. Gottes Verheißung an Abraham oder die Befreiung des Volkes Israel aus Ägypten und später aus der babylonischen Gefangenschaft. Auf der anderen Seite ist auch das NT kein Liebesroman. Gott opfert – selbst für viele Christen schwer nachvollziehbar – seinen eigenen Sohn durch einen gewaltsamen Tod am Kreuz, um die Welt zu erlösen (Jes 53,1-12;Mt 26,31). Wenn wir die gewaltsamen Szenen des noch kommenden Weltgerichts in der Offenbarung lesen (Offb Kap. 20), spätestens dann ist auch das NT nichts mehr für Zartbesaitete. Gott ist immer derselbe (Offb 22,13). Er ist der „bei dem es keine Veränderung und keine Verfinsterung gibt“ (Jak 1,17b). So wie der Vater, hat sich auch der Sohn nie verändert: „Jesus Christus ist derselbe gestern, heute und in Ewigkeit“ (Heb 13,8), der nicht gekommen ist, um das AT (das Gesetz und die Propheten) aufzuheben, sondern es zu erfüllen (vgl. Mt 5,17).

Umgang mit den „dunklen Stellen“ im AT

Wie können wir nun mit diesen „dunklen Stellen“ des AT umgehen, mit denen in der Geschichte der Christenheit unter Berufung auf Gott Massaker und Morde (inkl. der Kreuzzüge) und die gewaltsame Christianisierung in vielen Ländern gerechtfertigt wurden?

1. Verdrängen

Wir können sie verdrängen nach dem Motto: „Ist nicht so wichtig für meinen Glauben, das wird mir Gott sicher mal im Himmel erklären“. Es ist OK, dass du und ich, die sich für den Glauben an Gott und die Bibel interessieren, mit dem Lesen des Lukas- oder Johannesevangeliums beginnen und nicht gerade mit dem 4. Buch Mose. Wenn wir den dreieinigen Gott aber besser kennen lernen wollen, dürfen wir nicht beim Lesen des NT bleiben; dem AT und seinen „dunklen Stellen“ auszuweichen, bedeutet letztendlich Gott selbst auszuweichen.

2. Die „Jesus-Brille“

Wir können (und sollten) die „dunklen Stellen“ im AT natürlich durch die „Jesus-Brille“ betrachten. Jesus ist das perfekte Abbild Gottes, der unverfälschte Ausdruck seines Wesens (vgl. Heb 1,3). Er hat sich in Jesus vollständig und endgültig geoffenbart. Wenn wir das AT und damit Gott jedoch ‚nur‘ durch Jesus hindurch betrachten, kann dies (wie es auch bei mir der Fall war) zu einem zweigeteilten Gottesbild führen. Wir sehen das „Original“ Gottes mit Jesus im NT und machen den Gott Abrahams, Jakobs und Isaaks im AT zu einer billigen „Kopie“, bei dem durch das Gesetz und die Sünden der Menschen sowieso niemand als gerecht bestehen kann. Mit der „Jesus-Brille“ laufen wir Gefahr, unsere Herkunft und die jüdischen Wurzeln unseres christlichen Glaubens zu verleugnen und Gottes Wesen zu verkennen.

3. The Big Picture

Wir sollten das „Big Picture“, das große Bild der Bibel und Gottes Plan im Blick haben, um zu verstehen, warum Gott im AT und im NT so (z.T. diametral) handelte, wie er eben handelte. Gott sehnt sich danach mit Menschen, die an ihn glauben, ihn lieben und ihm vertrauen auf Augenhöhe zusammen zu sein. Er hat sich durch die atl. Bünde mit Noah, Abraham, Mose und David und durch den neuen Bund sogar durch sein eigenes Blut an uns Menschen „gebunden“, um mit uns gemeinsam an der Wiederherstellung (Recreation) der ganzen Schöpfung zusammen zu arbeiten. In diesem Lichte sollten wir die „dunklen Stellen“ im AT studieren und sie natürlich nicht aus ihrem biblischen und historischen Kontext reisen. Im oben genannten Beispiel entscheidet Gott, die Stadt Jericho in Josuas Hände zu geben, da ihm der Götzendienst des Volkes Kanaan (welcher u.a. Kinderopfer beinhaltete!) „ein Gräuel“ war (5. Mo 12,29-31). Gerade in den vermeintlich „dunklen Stellen“ offenbart sich der heilige Gott nicht nur unser Schöpfer und Vater, sondern als Herr der Geschichte, als ein souveräner und gerechter König, Herrscher und Richter.

Was können wir von den „dunklen Stellen“ im AT lernen?

In 2.Tim 3,16-17 lesen wir: „Jede von Gott eingegebene Schrift ist auch nützlich zur Belehrung, zur Widerlegung, zur Besserung zur Erziehung in der Gerechtigkeit; so wird der Mensch Gottes zu jedem guten Werk bereit und gerüstet sein.“ Seit wir die Früchte vom Baum der Erkenntnis (1. Mo, Kap. 2-3) gegessen haben, versuchen wir alles, ja sogar Gott selbst, dessen Gedanken und Wege höher bleiben als unsere (Jes 55,8-9), nach unserem menschlichen Ermessen in Dimensionen wie „Gut“ und „Böse“ zu klassifizieren. Anhand der „dunklen Stellen“ im AT können wir lernen, dass Gott Sünde ernster nimmt als wir vielleicht denken. Gott ist nicht nur ein Gott der Liebe, sondern auch ein Gott der Gerechtigkeit, ein heiliger Gott. Ein Gott, der zwar die Menschen aus tiefstem Herzen liebt, aber auch die Sünde der Menschen aus tiefstem Herzen hasst. Darin hat sich Gott nie geändert. Sein Zorn über die Sünde und seine Liebe für uns Sünder liegen näher zusammen, als uns manchmal vielleicht bewusst und lieb ist.

 

DA

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